Gedanken zur Jahreslosung
Du bist ein Gott, der mich sieht. (Genesis 16, 13)
Liebe Leserinnen und Leser,
in der Geschichte mit dem Vers für die Jahreslosung 2023 geht es um Menschen, die ins gesellschaftliche Abseits gedrängt worden sind. Die Stammmutter des späteren jüdischen Volkes Sarai ist bisher kinderlos geblieben und schon sehr alt. Um dennoch zu Nachfolgern zu kommen, soll ihr Mann Abram mit Hagar, der Magd Sarais ein Kind zeugen, das dann nach der Geburt von Sarai adoptiert werden würde. Hagar kommt damit auf einmal eine besondere Rolle zu. Sie ist plötzlich mehr als nur eine Magd. Und als sie weiß, dass sie ein Kind in ihrem Bauch trägt, muss das ihre Herrin Sarai auch zu spüren bekommen haben. In der Bibel heißt es, Hagar achtete ihre Herrin gering. Abram hält sich in dieser Situation vornehm zurück und überlässt es seiner Frau, wie sie mit ihrer Magd verfährt. Diese reagiert auf Hagars Geringschätzung, indem sie sie ihrerseits demütigt. Hagar wiederum weiß sich nicht anders zu helfen, als in die Wüste zu fliehen. Dort begegnet ihr an einer Wasserquelle ein Engel, der sie dazu ermutigt darauf zu vertrauen, dass Gott ihr beisteht. Innerlich gestärkt kann sie den Rückweg zu Sarai und Abram antreten und zu Gott sagen: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ (1. Mose 16,13) Selbst wenn sie und ihr Sohn Ismael später gänzlich vertrieben werden, so ist Gott ihnen dennoch nahe. Ihnen ist ähnlich wie Abram und Sarai eine große Zahl an Nachkommen beschieden (1. Mose 25,12)
Die Geschichte Hagars und ihres Sohnes ist eine Geschichte, in der sich alle wiederfinden können, die an den Rand gedrängt worden sind. Eben noch für wichtig gehalten und schon im nächsten Moment fallen gelassen, für unbrauchbar befunden, in die Wüste geschickt. Nach 1989 haben viele Werktätige im Osten unseres Landes eine ähnliche Erfahrung machen müssen. Von einem Tag auf den anderen wurden sie entlassen und mussten sehen, wo sie bleiben. Doch Gott lässt das nicht so stehen. Wie Hagar so steht er allen zur Seite, die ins gesellschaftliche Abseits gedrängt worden sind. Darauf dürfen wir bauen, wenn es uns einmal ähnlich ergehen sollte. Gott sieht mich, wenn ich mir wie auf dem Abstellgleis vorkomme, wenn ich keinen Plan habe, wie es weitergehen kann. Und Gott braucht mich, um gemeinsam mit ihm denen zur Seite zu stehen, die das Schicksal Hagars teilen.
Pfarrer M. Köber, Mulda
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